Hanau ist überall – #Unteilbar an der Seite der
Betroffenen und Angehörigen
„Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem, von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben.“– Serpil Temiz Unvar, Mutter von Ferhat Unvar
Wir gedenken und erinnern an:
Gökhan Gültekin – er war 37 Jahre alt, ein gelernter Maurer, der als Kellner arbeitete und den seine Freunde Gogo nannten. Sedat Gürbüz – er war 30 Jahre alt und Besitzer des Tipwin-Spätkaufs und der Shisha-Bar Midnight neben der Arena-Bar. Said Nesar Hashemi – er war 22 Jahre alt und hatte gerade seine Ausbildung als Maschinen- und Anlagenführer abgeschlossen. Mercedes Kierpacz – sie war 35 Jahre alt, arbeitete in der Arena-Bar und war Mutter zweier Kinder. Hamza Kurtović – er hatte mit 20 Jahren gerade seine Ausbildung abgeschlossen. Vili Viorel Păun – er war 23 Jahre alt und arbeitete bei einer Kurierfirma. Fatih Saraçoğlu – er war ein 34-jähriger Kammerjäger. Ferhat Unvar – er war 22 Jahre alt und gerade im Begriff, seine eigene Heizungsinstallationsfirma zu gründen. Kaloyan Velkov – er war 33 Jahre alt, Wirt der Bar La Votre neben der Shisha-Bar Midnight und Vater eines siebenjährigen Sohnes.
Am 19. Februar 2020 wurden sie Opfer eines rassistischen Terroranschlags.
Die solidarische Gesellschaft der Vielen ist voller Trauer. Voller Trauer und auch Wut wird unsere Solidarität über die reine Anteilnahme hinausgehen. Es ist unser Versprechen und unsere Verpflichtung, uns den folgenden Forderungen der Betroffenen und Angehörigen anzuschließen, um die Gesellschaft der Vielen zu verteidigen: Erinnerung an die Ermordeten, Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen, vollständige und lückenlose Aufklärung des Verbrechens und der Verantwortung staatlicher Stellen im Zusammenhang mit dem Attentat sowie politische Konsequenzen auf Landes- und Bundesebene.
Die rassistischen Morde in Hanau reihen sich ein in eine erschütternde Serie rechtsterroristischer Anschläge: Im Juni 2019 wurde Walter Lübcke ermordet, ein CDU-Politiker aus Kassel, der sich lokal für Geflüchtete einsetzte. Vier Monate später konnten die Mitglieder und Gäste der Jüdischen Gemeinde in Halle einen antisemitischen Anschlag nur durch eigene Sicherheitsvorkehrungen abwehren. Außerhalb der Synagoge wurden jedoch Kevin S. und Jana L. ermordet. Abdi Raxmaan Aftax Ibrahim und sein Freund entkamen dem Rechtsterroristen nur knapp.
Die Ideen und Motivation für diese menschenverachtenden Taten liefern rechte Netzwerke und organisierte Rechte auf den Straßen wie auch in den Parlamenten. Der Nährboden, auf dem Brandstifter und Täter sich sicher fühlen, ist eine Gesellschaft mit tief verankertem, institutionellem und strukturellem Rassismus. Die Ergebnisse des unabhängigen Monitorings des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) zeigen das erschütternde Ausmaß rechter Gewalt: 2019 fielen in den acht Bundesländern, in denen Statistiken
erhoben wurden, insgesamt täglich mindestens fünf Menschen rechten, rassistisch und/oder antisemitisch motivierten Angriffen zum Opfer. Rassismus ist bei rund zwei Dritteln der Angriffe das Tatmotiv. Das Dunkelfeld rechter Gewalt ist bei weitem größer, u.a. weil der rassistische Hintergrund von Gewalttaten in offiziellen Statistiken häufig nicht erfasst wird.
Rassistische Stimmungen werden immer wieder durch Medien bestätigt, die reißerisch über „Clans“ oder Razzien in Shisha-Bars berichten und damit einen Generalverdacht erzeugen. Die Wahl der Arena-Bar und des Spätkaufs als Tatorte müssen wir im Zusammenhang mit der Kriminalisierung von Menschen mit Migrationsgeschichte betrachten.
Heute, ein Jahr nach dem Attentat fordern die Betroffenen noch immer die Aufklärung der Taten. Viele Fragen sind noch offen: Warum blieben die mehrfachen Notrufe von Vili Viorel Păun bei der Polizei ungehört? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass der Notausgang verschlossen war? Warum wurde das nie untersucht? Wir fordern die schnelle und
lückenlose Aufklärung!
Von den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden gibt es erschütternde Berichte von Täter-Opfer-Umkehr und respektlosem und ignorantem Umgang durch Vertreter*innen von Behörden, Beamt*innen und Polizist*innen.
Anerkannte internationale Gremien und Organisationen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europarat bemängeln seit Jahren, dass es in Deutschland keinen unabhängigen Untersuchungsmechanismus gibt, der den rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Anforderungen genügt. Um das Recht auf Aufklärung und Schutz
für Betroffene von Rassismus zu gewährleisten, müssen unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden.
Die Gefahr rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist eine akute Bedrohung. Sie verpflichtet uns alle, laut und unteilbar unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen:
• Wir fordern einen gesellschaftlichen Pakt gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus.
• Wir fordern, dass die Aussagen der Betroffenen (möglicher) rassistischer Gewaltverbrechen ernst genommen werden und im Zentrum der Ermittlungspraxis stehen.
• Wir fordern die Aufklärung und die Entwaffnung aller rechtsextremen Netzwerke und Organisationen.
• Wir fordern, dass die Menschenrechte unteilbar bleiben und für alle gleichermaßen gelten.
Wir stehen solidarisch an der Seite der Angehörigen und Unterstützer*innen der „Initiative 19. Februar Hanau“. Gemeinsam fordern wir, dass Hanau und auch Halle zur Zäsur werden!
Eine Zäsur, das wäre eine Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder schützt. Das wäre eine Gesellschaft, die das Menschenrecht auf Unversehrtheit aller, nicht nur mancher, verwirklicht. Das wäre eine Gesellschaft, die sich selbst kraft ihrer Vielheit und einem breit getragenen Gedenken so verändern kann, dass niemand mehr Angst vor rassistischem
Terror haben muss.
Noch bestehen die Bedingungen des Terrors fort.
Folgen wir den Aufrufen der Betroffenen,
machen wir Hanau und Halle zu einer Zäsur!
#unteilbar, Februar 2021